Stress in der Zahnarztpraxis: Warnzeichen erkennen, Risiken senken
Stress gehört zum Berufsalltag vieler Zahnärztinnen und Zahnärzten. Doch noch immer ist er Tabuthema. Dabei zeigen Studien: Dauerbelastung gefährdet nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Behandlungsqualität.
Montag, 8.30 Uhr. Die erste Patientin rutscht unruhig auf dem Stuhl hin und her, wirft im Minutentakt Blicke auf ihre Uhr. Die Anwältin wirkt angespannt, Zahnärztin Simone Meyer spürt die Nervosität. Sie lässt sich ablenken. Dieser kurze Moment der Unachtsamkeit genügt: Beim Entfernen des Retainers verschluckt die Patientin ein loses Drahtstück. Sie hustet, ringt kurz nach Luft. Atemnot bleibt aus. Doch der feine Edelstahldraht könnte innere Verletzungen verursachen. Meyer bricht die Behandlung ab und überweist die Patientin zur Abklärung ans Spital. Im zweiten Behandlungszimmer wartet schon der nächste Patient. Während des Tages erinnert sich Simone Meyer immer wieder an den Zwischenfall. Am Abend, nach einem langen Arbeitstag, schreibt sie der Patientin eine E-Mail.
Der Name der Zahnärztin ist erfunden, das Beispiel nicht. Es stammt von Alina Zürcher, die an der Universität Zürich, zum Thema Stress in der Zahnmedizin forscht. Sie hat kürzlich Schweizer Zahnärztinnen und Zahnärzte befragt: Mehr als sechzig Prozent klagen regelmässig über beruflichen Stress. Ob Praxis, Klinik oder Zentrum: Stress in der Zahnmedizin ist weit verbreitet. Doch viele empfinden ihn als Teil des Berufs. Und genau hier beginnt das Problem. Denn Stress ist nicht nur unangenehm, er hat Folgen. Wie können Zahnmediziner ihm begegnen, bevor er sie überfordert?
Was Zahnärztinnen, Zahnärzte stresst
Zahnmedizin ist handwerkliche Präzisionsarbeit im Hundertstelmillimeterbereich. Sie verlangt volle Konzentration – auch unter Druck – und möglichst wenig Ablenkung. Doch der zahnärztliche Berufsalltag ist eng getaktet: Die Agenda ist voll, Behandlungsdauer festgelegt, die Abläufe im Team etabliert. Häufigster Stressfaktor für Zahnärztinnen und Zahnärzte ist die Zeit. Die enge Planung lässt kaum Raum für Unvorhergesehenes. Misslingt ein Eingriff oder streikt ein Gerät, geraten eingespielte Abläufe und durchdachte Tagespläne leicht ins Wanken.
Zahnbehandlungen folgen keinem Schema. Jeder Eingriff ist ein Einzelfall. Patientinnen und Patienten haben unterschiedliche Erwartungen, unterschiedliche Eigenschaften. Manche stellen klare Forderungen, andere haben Angst, fürchten sie vor Eingriffen. Diese Patienten brauchen mehr Zuwendung, mehr Geduld, mehr Zeit – Ressourcen, die im Praxisalltag oft knapp sind. Auch Kommunikationsprobleme in der Praxis können belasten. Sprachliche Hürden, Missverständnisse im Team oder unklare Zuständigkeiten kosten Energie. Besonders herausfordernd sind Situationen, in denen Rollen nicht klar definiert sind oder wenn es im Team an Rückhalt fehlt. Studien bestätigen: Zahnärztinnen und Zahnärzte berichten überdurchschnittlich häufig von Belastungen durch organisatorische Unklarheit, technischen Stress und zwischenmenschliche Spannungen.
Was ist Stress?
Stress lässt sich nicht einheitlich definieren. Die Forschung kennt viele Erklärungsansätze, doch keine verbindliche Norm. Stress ist subjektiv, wirkt unvorhersehbar und zeigt sich bei jedem Menschen anders. Ein zentraler Ansatz stammt vom Psychologen Richard Lazarus. Sein transaktionales Modell sieht Stress als Folge der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt. Der Mensch prüft ständig, oft unbewusst, ob eine Situation gefährlich ist (Primärbewertung) und ob ihm genug Mittel zur Verfügung stehen, damit umzugehen (Sekundärbewertung). Fallen beide Bewertungen negativ aus – also: bedrohlich und nicht zu bewältigen – entsteht Stress.
Stress ist nicht grundsätzlich schlecht. Solange wir die schwierige Herausforderung lösen können, wirkt gar leistungsfördernd und motivierend. Fachleute sprechen von positivem Stress – sogenanntem Eustress. Problematisch wird es, wenn wir uns überfordert fühlen, keinen Ausweg sehen. Dann wird – oft in Sektionenbruchteilen – aus Eustress, Distress.
In der Zahnmedizin sind solche Kippmomente häufig, wenn ein Eingriff unerwartet schwierig wird. In solchen Situationen verändern Zahnärztinnen und Zahnärzte ihr Verhalten: die Konzentration sinkt, Entscheidungen werden impulsiver, das Mitgefühl nimmt ab. Studien zeigen: In stressreichen Situationen steigen die Fehlerquote und das Risiko für Komplikationen. Stress ist also nicht nur ein individuelles Thema, sondern auch ein Faktor für Qualität und Patientensicherheit.
Was Stress im Körper auslöst
Stress wirkt nicht nur nach aussen, sondern auch gegen innen. Die körperlichen Reaktionen auf Stress sind gut erforscht. Im Zentrum steht das Zusammenspiel zwischen Gehirn und Niere – die sogenannte HPA-Achse: Hypothalamus, Hypophyse und Nebennierenrinde. Bewertet der Körper eine Situation als bedrohlich, produziert er in der Nebennierenrinde das Hormon Cortisol. Gleichzeitig aktiviert der Sympathikus das vegetative Nervensystem. Die klassische «Kämpfen-oder-Fliehen-Reaktion» setzt ein: Die Herzfrequenz steigt, die Atmung wird schneller, der Blutdruck erhöht sich.
Der Körper ist in Alarmbereitschaft. Das ist sinnvoll, um in Gefahrensituationen angemessen zu reagieren. Bleibt der Körper aber dauerhaft aktiviert, wird der Organismus überlastet. Der Stress wird chronisch, was gesundheitliche Folgen mit sich bringt. Chronischer Stress führt zu Schlafstörungen, Gereiztheit, Konzentrationsschwächen und im schlimmsten Fall zu Erschöpfungszuständen. Auch die kognitiven Fähigkeiten verschlechtern sich. Gestresste Zahnärztinnen und Zahnärzten brauchen länger für Diagnosen, übersehen häufiger Befunde und treffen vermehrt falsche Entscheide.
Langfristig kann chronischer Stress das Immunsystem schwächen, den Stoffwechsel beeinflussen und die Funktion bestimmter Hirnareale verändern. Auch jene, die für das Gedächtnis oder für Entscheidungsfähigkeit zuständig sind. Besonders kritisch: Ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel steigert das Risiko für Burnout, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen. Stress ist also nicht nur ein mentales Phänomen, sondern auch ein körperliches.
Wie man Stress erkennt – bei sich selbst und im Team
Stress kündigt sich selten laut an. Oft bleibt er lange unbemerkt. Besonders tückisch: Viele Zahnärzte haben gelernt, Warnzeichen zu ignorieren. Sie sehen Stress als Teil des Berufs – als Ausdruck von Verantwortung. Anina Zürcher bringt es auf den Punkt: «Viele funktionieren auch dann, wenn sie längst erschöpft sind.» Sie nennt typische Anzeichen: «Gereiztheit, Müdigkeit, Schlafprobleme, keine Freude an der Arbeit. Die Empathie nimmt ab, das Interesse am Gegenüber schwindet.» Diese Zustände können Zahnärztinnen und Zahnärzte nicht verbergen, sie übertragen sich ins Team. Auseinandersetzungen nehmen zu, die Kooperationsbereitschaft sinkt, die Fehlertoleranz schwindet. Nicht selten entsteht ein Klima der Unsicherheit. So weit muss es jedoch nicht kommen. Wer Stress früh erkennt, kann gegensteuern – bei sich selbst und im Team.
Prävention bedeutet, Stress offen anzusprechen
Stressprävention beginnt im Alltag. Schon kleine Massnahmen wirken. Pausen sollten nicht nur geplant, sondern auch eingehalten werden. Klare Zuständigkeiten und realistische Zeitfenster für alltägliche Pflichten entlasten und mindern das Gefühl von permanentem Druck. Diese Führungsaufgabe liegt bei den Zahnärztinnen und Zahnärzten – und sie verlangt nach Aufmerksamkeit.
Anina Zürcher nennt eine einfache Methode zur Selbst- und Teameinschätzung: Das regelmässige Stimmungsbarometer. In persönlichen Gesprächen fragt man: «Wie gestresst fühlst du dich heute auf einer Skala von 0 bis 10?» Das schafft Raum für Reflexion. Auch ein bewusster Perspektivwechsel öffnet neue Gesprächsräume: Ein Satz wie «Ich habe das Gefühl, dass wir in letzter Zeit sehr unter Druck stehen», lädt zur Diskussion ein. Entscheidend ist, das Thema Stress offen anzusprechen. Das schafft Vertrauen – und Vertrauen ist die Grundlage für Resilienz. Wer sich sicher fühlt, kann Fehler offen ansprechen und um Hilfe bitten. Eine gesunde Fehlerkultur stärkt die Zusammenarbeit. Entscheidend für Zahnärztinnen und Zahnärzte ist: Warnzeichen nicht ignorieren, Stresssymptome ernst nehmen, sie ansprechen, bevor der Stress chronisch wird. Annina Zürcher fasst es treffend zusammen: «Prävention ist wirksamer – und nachhaltiger – als jede Reparatur».
Weniger Stress, mehr Qualität
Ein bewusster Umgang mit Stress ist eine Führungsaufgabe. Wer ihn früh erkennt und gezielt reduziert, steigert das eigene Wohlbefinden und stärkt die Behandlungs- und Betreuungsqualität. Patientinnen und Patienten spüren, ob ein Praxisteam funktioniert. Freundliches Auftreten, ruhiges, konzentriertes und empathisches Arbeiten fallen auf und bleiben in Erinnerung. Zugleich wächst die Zufriedenheit im Team. Vertrauen und Wertschätzung schaffen ein Klima, in dem alle Teammitglieder ihr Potenzial entfalten können. Stressprävention ist für Zahnärztinnen und Zahnärzte nicht Privatsache, sondern Ausdruck von Verantwortung: Wer gut für sich sorgt, kann besser für andere da sein – für sein Team, für seine Patientinnen und Patienten.
Möchten Sie mehr über Stress erfahren?
Anina Zürcher, Oberärztin, forscht am Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich über Stress in der Zahnmedizin, in der Zahnarztpraxis. Sie hat am diesjährigen SSO-Kongress einen spannenden Einblick in ihr Forschungsgebiet gegeben. Besonders für Führungskräfte, die Verantwortung für sich und ihr Team übernehmen wollen, lohnt sich ein Blick auf ihr Referat. Ab sofort On-Demand verfügbar auf der Plattform des SSO-Kongresses: