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"Wir wollten die Vielfältigkeit gezielt darstellen"

Lisa Ewersbach
Lisa Ewersbach
Wimmelbuch

Es gibt Kinderbücher über Zahnarztbesuche und Kinderbücher über Diversität. Aber vermutlich gab es noch keins, das beide Themen miteinander auf sympathische Art verbindet. Stephan Baumgartner und Mélanie Meier-Pereira haben das geändert mit ihrem Wimmelbuch «Zahnarztpraxis Kunterbunt».

Woher kam die Intention, ein Kinderbuch zu gestalten?

Mélanie Meier-Pereira: Ich habe eine Tochter und viele Wimmelbücher zu Hause. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Themen sich ähneln und nie etwas kreiert wurde, was unseren Bereich beleuchtet. Kinder haben in der Regel Angst vor dem Zahnarzt. So ein Buch kann helfen, ein anderes Bild zu vermitteln. Mit dieser Intention ging ich auf Stephan Baumgartner zu, der die Idee mit Begeisterung aufnahm. So begann der Entwicklungsprozess.

Stephan Baumgartner: Ich habe zu Hause von der Idee erzählt, und meine Kinder fanden das ganz toll. Sie waren am Entstehungsprozess beteiligt, indem sie ab und zu Kritik übten und Anpassungen forderten.

Was macht Ihr Buch so besonders?

Baumgartner: Dass das Buch persönliche Geschichten enthält. Zu Hause züchte ich mit meiner Frau und unseren Kindern Hühner. Lulu aus dem Buch gibt es also wirklich. Man kann viel Menschliches und Soziales über eine Zahnarztpraxis vermitteln. Aber auch Politisches und Humanistisches, und darum ging und geht es uns: den menschlichen Aspekt in den Vordergrund zu stellen, nach dem wir auch unser Praxisteam rekrutieren. Dadurch kreieren wir eine Brücke zum Patienten, wobei uns das Wimmelbuch unterstützt. Ich bin auf diese Themen sensibilisiert, da eines meiner Spezialgebiete die Migrationszahnmedizin ist, was das Asylwesen beinhaltet. Auch meine Tätigkeit an der Universität Zürich an der Klinik für Allgemein-, Behinderten- und Seniorenzahnmedizin spiegelt sich im Buch wider. Wir haben ein grosses Bedürfnis, mitzugestalten und ein bisschen Farbe in die Bude zu bringen. Die Branche der Zahnmedizin ist schon steril genug. Zahnärztinnen und Zahnärzte haben ein schwieriges Standing: Wir sehen komisch aus, es riecht seltsam, es tut manchmal weh oder ist unangenehm und dann kostet es auch noch viel Geld. Das birgt wiederum viel Potenzial nach oben. Sei es mit so einem Buch, sei es mit Hypnose, Gesprächen, mit der Sprache oder der Tonalität.

Wie wichtig war Ihnen Diversität?

Meier-Pereira: Das war uns enorm wichtig. Auch weil im medizinischen Bereich das Gefühl aufkommt, dass dort noch nicht viel Akzeptanz herrscht, wenn man optisch aus dem gewohnten Rahmen fällt. Im Spital gibt es beispielsweise Stellen, bei denen sichtbare Tattoos und Piercings verdeckt werden müssen oder man aus diesem Grund im Zweifel gar nicht erst anfangen darf. Es war uns ein Anliegen, die Multikulturalität unserer Praxis im Buch abzubilden. Auch die Namensgebung war nicht willkürlich. Der Name Toni z. B. ist ein Unisex-Name. Amira wählten wir, um etwas Muslimisches zu haben. Ein Juan und ein Browdy sind ebenfalls vertreten, um unterschiedliche Nationalitäten und Kulturen abzudecken, damit nicht alles europäisch, sondern international ist.

Baumgartner: Das macht das Buch zu einer Art Gesamtkonzept. Es ist ein Inklusionsbuch. Das hat vor allem den Vorteil, dass man so gut wie keine Anpassungen machen müsste, sollte das Wimmelbuch übersetzt werden. Es war uns wichtig, dass die Vielfältigkeit gezielt dargestellt wird. Wir müssen eine gewisse Sensibilität mit Blick auf die Interreligiosität mitbringen, damit wir gut miteinander funktionieren. Wir haben Christen, Atheisten, Juden, Muslime, Aleviten, Sunniten, Schiiten. Da braucht es Feingefühl und Wissen darüber, was z. B. Sukkot oder das Zuckerfest ist. Es birgt sehr viele Chancen, dass das Miteinander funktioniert, wenn man von beiden Seiten aufeinander zugeht.

Was ist der Vorteil, ausschliesslich mit Illustration zu arbeiten?

Meier-Pereira: Es ist typisch für die Wimmelbücher, dass sie ohne Text auskommen und alles mit Bildern dargestellt wird. Damit können Einjährige etwas anfangen, aber auch Drei- bis Vierjährige. Ausserdem braucht man dafür nicht zwingend die Eltern, die den Text vorlesen müssten. Zusätzlich regt es die Fantasie an. Wenn das Kind das Bild sieht und sich eine Geschichte dazu ausdenkt, kann es sich eine eigene kleine Welt zusammenfantasieren. Bilder sind immer auch Denkanstösse.

Was erhoffen Sie sich jetzt nach der erfolgreichen Realisierung?

Meier-Pereira: Ich hoffe, dass der Umgang mit Leuten, die anders aussehen oder auch augenscheinlich einer anderen Religion angehören, lockerer wird. Dass die Akzeptanz steigt. Nicht nur bei Patienten, sondern auch bei Angestellten. Was denken Sie, warum es in dem Bereich bis jetzt noch Nachholbedarf gibt? Meier-Pereira: Ich denke, man hat Angst vor der Reaktion der Patienten. Dass sie vielleicht denken, dass der Mitarbeitende nicht seriös ist und ein «Larifari-Gefühl» aufkommen könnte.

Baumgartner: Wandel braucht immer Zeit, es braucht üblicherweise Generationen, um Veränderungen, beispielsweise auch politisch, herbeizuführen. Es gibt viele Chancen bei der Gleichstellungsfrage. Wenn wir in der Praxis eine Toilette lediglich als WC bezeichnen, lässt das bewusst offen, ob sie für Männer, Frauen oder nonbinäre Personen ist. Das sind kleine Zeichen, die entscheidend sind, weil sie einen enormen Effekt haben. Ist man selbst nicht betroffen, spürt man das nicht. Zählt man jedoch zu dem Personenkreis, fühlt man sich integriert und aufgehoben. Das finde ich wichtig und schön und verstehe das auch als unseren gesellschaftlichen humanistischen Auftrag: die Menschen abzuholen und auf sie einzugehen.

Wer war oder ist eine weitere Stütze des Projekts?

Baumgartner: Die Franz AG, die 7,5 Prozent der Produktionskosten übernommen hat. 10 Prozent sind Sponsoring. Als Gegenleistung haben wir das Branding der AG in das Buch eingearbeitet. Der Verlag hat die Hälfte der insgesamt 2000 gedruckten Exemplare abgenommen und übernimmt den gesamten Vertrieb mit den Buchhandlungen. Was den Gewinn betrifft, geht eine Hälfte an das Kinderspital in Zürich. Die andere investieren wir in den zweiten Teil des Wimmelbuchprojekts. Wir planen, im Jahr 2023 damit zu beginnen.