Thomas Marthaler: Ein Leben für die Kariesprophylaxe

Katrin Schregenberger
Archiv Milan Schijatschky
Professor Thomas Marthaler diskutiert mit Dr. Ulrich P. Saxer. Aufnahme ca. 1975. (Bild: Archiv Milan Schijatschky)

Thomas Marthaler war einer der bedeutendsten Förderer der Kariesprophylaxe weltweit.

Kinder mit von Karies schwarzen Milchzähnen: Dieser Anblick gehörte in den 50er-Jahren für Schweizer Zahnärzte zum Alltag. Auch für Thomas Marthaler. Der damals rund 25-jährige Zahnmediziner arbeitete in der väterlichen Zahnarztpraxis in Zürich. Einem kleinen Kind den Backenzahn zu ziehen, unter grössten Schwierigkeiten, manchmal ohne verhindern zu können, dass das Kind etwas davon spürte: Das tat dem frischgebackenen Zahnarzt im Herzen weh. Zumal er wusste, dass das Ziehen gewisser Milchzähne die Weiterentwicklung des Gebisses beeinflussen und das Kind die Folgen sein Leben lang spüren würde. Und das, obwohl die Karies hätte verhindert werden können. Durch Fluoridanwendung, und vor allem: durch regelmässige und korrekte Zahnpflege.

Das war in den 50er-Jahren bereits bekannt. Und trotzdem fühlte sich niemand zuständig, weder Zahnärzte noch Lehrer noch Behörden, der Flut an Karies bei Kindern und Erwachsenen Einhalt zu gebieten. Schulkinder entwickelten zu jener Zeit im Durschnitt vier neue Löcher pro Jahr. 1960 fiel deshalb Thomas Marthalers Entscheid, die väterliche Praxis nicht zu übernehmen und sich stattdessen am Institut für Präventivmedizin der Universität Zürich ganz der Kariesprophylaxe zu widmen.

«Er hat nicht viel gesagt, aber wenn, dann war das Gesagte extrem überlegt und sehr präzise.» Das sagt Ulrich Saxer. Er war in den 60er-Jahren Student bei Marthaler, habilitierte bei ihm und führte danach mit ihm zahlreiche Forschungsarbeiten durch. Er ist ein Weggefährte und ebenfalls Präventiv-Zahnmediziner. Wenn er an diese Jahre zurückdenkt, denkt er an Thomas Marthaler, wie er in seinem Büro auf und ab spazierte und dabei seiner Assistentin ganze Forschungsarbeiten diktierte. «Er hatte alles im Kopf, alle Zahlen.» Mit seiner Forschung würde Marthaler die Kariesprophylaxe komplett revolutionieren.

Das Experiment

Um zu beweisen, dass Prophylaxe die Karies fast vollständig zum Verschwinden bringen kann, startete er 1963 ein Experiment mit 20 Zürcher Gemeinden. Das war die Geburtsstunde der Schulzahnpflege und das erste Mal, dass Schulzahnpflege-Instruktorinnen (SZPI) zum Zug kamen. Drei Mal im Jahr besuchten die ersten SZPI fortan die Klassen in den Gemeinden und führten Zahnputzinstruktionen mit Fluorid durch. Hinzu kamen drei Mal im Jahr Instruktions-Stunden durch die Lehrer. Alle vier Jahre wurden die Zähne der Kinder zahnärztlich untersucht und Daten zum Kariesbefall erhoben. So wurde die Wirkung des Prophylaxe-Programms beobachtet – und das über 40 Jahre lang bis zum Jahr 2009.

Dass die Karies-Prophylaxe funktionierte, zeigte sich sehr rasch und zwar bereits nach den ersten Untersuchungen 1967/68: Um bis zu einen Drittel hatte sich das Kariesvorkommen in jenen Gemeinden verringert, die auf SZPI setzten. Gemeinden, welche das Programm nicht mitmachten, verzeichneten keinen Rückgang. Bei der zweiten Kontrolle betrug die Reduktion gegenüber der Ausgangslage bereits 50 Prozent. 2009 war Karies mit einer Reduktion von 96 Prozent fast ganz verschwunden. Der Zürcher Erfolg in der Kariesprophylaxe machte die Runde unter den Kantonen und nach und nach wurde die Schulzahnpflege schweizweit eingeführt.

Initiant der Salzfluoridierung

Dieses Prophylaxe-Experiment sowie seine weitere Forschung machten Thomas Marthaler zu einem der bekanntesten und kompetentesten Experten in dem Bereich. Er erwirkte noch zahlreiche weitere Verbesserungen: Er war Mitglied der Schweizerischen Fluor- und Jod-Kommission und setzte die Einführung der Salzfluoridierung in der Schweiz durch. Dasselbe gelang ihm als WHO-Berater auch in Europa, Mittel- und Südamerika. Kochsalz wird heute standardmässig Fluorid beigesetzt, denn eine regelmässige Fluoridierung der Zähne schützt sie vor Karies. Marthaler gehörte zu den Mitbegründern der ersten Dentalhygiene-Schule der Schweiz. Und: Er gründete 1987 die Stiftung für Schulzahnpflege-Instruktorinnen, um so die Ausbildung von SZPI für die ganze Deutschschweiz zu ermöglichen.

Im Alter von 91 Jahren ist Thomas Marthaler im Jahr 2020 verstorben. Sein Erbe aber prägt die Schweizer Bevölkerung – und vor allem deren Mundgesundheit – bis heute und darüber hinaus.