«Ich bin ein Mensch und keine Diagnose»

Katrin Schregenberger
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Special Care Blinde

Anja Reichenbach lebt mit einer Sehbehinderung. An der 31. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Alters- und Special-Care-Zahnmedizin (SSGS) erklärte sie, auf welche Hürden sie beim Gang zum Zahnarzt stösst. 

Rund 1,6 Millionen Erwachsene leben in der Schweiz mit einer Behinderung. 75 Prozent davon kämpfen mit körperlichen Einschränkungen. Für Menschen mit Behinderung ist ein Zahnarztbesuch mit zahlreichen Hürden verbunden. An der Jahrestagung der SSGS erzählte Anja Reichenbach, welche dies sind und wie Menschen mit Behinderung der Zahnarztbesuch erleichtert werden kann. Sie lebt mit einer progressiven Netzhauterkrankung, ist also stark sehbehindert. Durch den Alltag hilft ihr ein Blindenhund. Reichenbach ist im Vorstand von Sensability, einem Verein «von Menschen mit Behinderung für Menschen ohne Behinderung», der sich für Inklusion einsetzt.

Reichenbach wies zu Beginn auf die UNO-Behindertenrechtskonvention hin, in der festgehalten ist, dass auch für Menschen mit Behinderung ein Höchstmass an Gesundheit ohne Diskriminierung möglich sein muss. Die Gesundheitsversorgung sollte ihnen die gleiche Bandbreite und Qualität garantieren wie Menschen ohne Behinderung. Dies sei in der Schweiz noch nicht erreicht, so Reichenbach. Es gebe noch grosse Unterschiede, gewisse Behandlungen würden für Menschen mit Behinderung gar nicht angeboten. Dies, obwohl die Schweiz die Behindertenrechtskonvention 2014 ratifiziert hat.

Hürdenlauf in die Praxis

Ein Zahnarzt-Termin bedeute für sie vor allem Stress, erzählte Reichenbach. Nicht unbedingt, weil sie vor der Zahnbehandlung Angst habe, sondern vor allem wegen dem Weg bis zur Praxis. Anschaulich beschrieb sie den Parcours, den sie als stark Sehbehinderte von der Haustüre über ÖV bis zur Zahnarztpraxis absolviert. Wenn sie ankommt, kann sie nicht läuten, weil die meisten Klingelschilder nicht mit Blindenschrift angeschrieben sind. Reichenbach ruft deshalb jeweils in der Praxis an, um zu melden, dass sie nun vor der Türe stehe. «Wenn ich in der Zahnarztpraxis ankomme, bin ich meist schon fix und fertig». Etwas Zeit, um zur Ruhe zu kommen sei deshalb sinnvoll.

Um die Anreise zu erleichtern, seien Wegbeschreibungen mit auffälligen Wegpunkten hilfreich, zum Beispiel auch zur Beschaffenheit des Bodens: Ist die Strasse zur Praxis gepflastert oder geteert? Auch, ob die Praxis rollstuhlgängig ist, sollte im Idealfall auf der Webseite der Praxis erwähnt sein.

 

Behandlungsraum beschreiben

In der Praxis sei für sie gute Kommunikation zentral. Müsse sie zum Beispiel unterschreiben, dann brauche sie jemanden, der ihren Finger exakt an der Stelle auf dem Papier platziere, wo die Unterschrift hin soll. Allein dieser Akt aber werde oft zum mühsamen Hin und Her. «Viele haben Angst, mich anzufassen», sagt sie. Beim Ausfüllen von Formularen müsse sie ihre persönlichen Daten diktieren. Warte dabei hinter ihr ein weiterer Patient, sei das unangenehm, da es sich um sensible Daten handle. «Mir wäre es hier jeweils angenehmer, wenn ich das Formular in einem separaten Raum ausfüllen könnte», sagte Reichenbach.

Sitze sie auf dem Zahnarztstuhl, böten ihr auch hier Beschreibungen wertvolle Unterstützung: Wie sieht es im Behandlungszimmer aus? Welches Gerät tönt derart und was macht es? Was braucht das Gegenüber und was braucht die Special-Care-Patientin? Eine offene Kommunikation sei hier zentral. Als skurril ist Reichenbach allerdings die Situation in Erinnerung geblieben, als ein junger Zahnarzt sie über ihre Augenkrankheit ausfragte. «Ich bin ein Mensch und keine Diagnose», sagt Reichenbach heute. Und als solcher möchte sie wahrgenommen werden.